Holocaust-Gedenktag

OB Kaster-Meurer: "Was bleibt, ist die quälende Frage - würden heute mehr Menschen aufbegehren?"


"Am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz von sowjetischen Soldaten befreit. Was sie dort entdecken mussten, lässt uns noch heute den Atem stocken vor Abscheu und Entsetzen. Mehr als eine Million Menschen waren allein in Auschwitz zwischen März 1942 und November 1944 in einem beispiellosen Vernichtungswillen ermordet worden. "Auschwitz" steht heute als Begriff für den nationalsozialistischen Rassenwahn.

Unser Gedenken ist an diesem Tag bei den Millionen von Opfern dieses unsäglichen Mordens: Juden zuallermeist, aber auch Sinti und Roma, Homosexuelle, Behinderte, Kriegsgefangene, Menschen, deren Leben eine Politik mörderischen Rassenwahns sich angemaßt hatte, für "lebensunwert" zu erklären. Aber unser Gedenken beschränkt sich nicht auf diesen einen Tag. Auch nach der Befreiung von Auschwitz ging das Morden weiter, in Belsen, Buchenwald und anderswo bis zum endgültigen Zusammenbruch des Nationalsozialismus. Und mehr noch als gedenken sollten, ja müssen wir uns erinnern an das, was in deutschem Namen vor allem den Juden angetan wurde: "Ein ganzes Volk", wie SS-Führer Himmler propagiert hatte, "von der Erde verschwinden zu lassen" – und mit ihm seine Religion, seine Kultur.

"Unter unsere Geschichte lässt sich kein Schlussstrich ziehen"

Unter diese deutsche Geschichte lässt sich kein wie immer gearteter "Schlussstrich" ziehen. Jeder Versuch, sich aus der historischen Verantwortung zu stehlen, ist zum Scheitern verurteilt. Dabei darf das Erinnern keine "Strafe" sein. Das Erinnern ist vielmehr. Ohne uns unserer Geschichte bewusst zu sein, wird uns nicht klar, was wir zu verteidigen haben und - insbesondere warum. Was damals geschehen ist, darf nicht vergessen werden. Gerade heute.

75 Jahre "danach", nach vielen Jahrzehnten friedlicher und demokratischer Entwicklung, bedürfen wir heute ganz besonders der Widerstandskraft, damit ganz gewöhnliche, humane und moralische Maßstäbe und Tugenden auch heute noch Bestand haben.

(...)

Heute: Lust am Erniedrigen, Kleinmachen, Erledigen als bedrohliche Entwicklung?

Wir wissen, wohin Rassenwahn und Überlegenheitsgefühle führen können. Wir schulden den Opfern des Holocaust unser Gedenken, unser Erinnern. Der Völkermord ist Teil unserer Geschichte geworden. Wir wollen auch heute und in Zukunft aus dieser Geschichte lernen. Wir wollen auch heute und in Zukunft aus dieser Geschichte lernen? Was ist eigentlich heute los bei uns, dass eine derartige Lust am Erniedrigen, Kleinmachen, Erledigen herrscht? Ist das eigentlich schon eine bedrohliche Entwicklung, eine Wiederholung?

Diese Gesellschaft ist extrem groß darin, das „Aufräumen“ lauthals zu fordern oder gleich die gute alte Metapher der rollenden Köpfe herbeizusehnen, aber sie ist erstaunlich klein darin, eine Kultur der Opposition zu pflegen, die es schafft, politische Theorien zu entwickeln, Gegenstimmen auf der Basis von Argumenten zu formulieren oder einfach zu sagen: "Meine Haltung ist eben anders“. (...)

Wenn man ernsthaft findet, dass jemand mit seinem Handeln falsch liegt, dann liegt im darauffolgenden Diskurs die Chance, dass sich in dieser Gesellschaft etwas ändert. Diese Auseinandersetzung heißt jedoch nicht, den Sprecher oder Handelnden zu delegitimieren. Er oder sie darf dafür nicht blamiert werden. Wenn wir das in immer stärkerem Ausmaß zulassen, nämlich dass die Entwicklung in eine falsche Richtung geht – und wir alle nehmen es wahr –, müssen wir uns ernsthafte Gedanken machen um unsere Demokratie und täglich dafür einstehen.

Denn genau das ist es: Die Gedenktage und die Unterrichtseinheiten in den Schulen können nicht die alltägliche Aufgabe des Erinnerns ersetzen.

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

So heißt es unmissverständlich in Artikel 1 Grundgesetz. Doch die Geschichte zeigt: Die Würde des Menschen ist antastbar. Nirgendwo wurde dieser Nachweis gründlicher erbracht als in Deutschland. Gerade deshalb muss Artikel 1 Grundgesetz kompromisslose Richtschnur unseres Handelns sein und bleiben, ein kategorischer Imperativ, um nie wieder zuzulassen, dass Menschen ausgegrenzt, verfolgt und in ihrem Lebensrecht beschnitten werden.

Das schulden wir allen Opfern, derer wir heute gedenken.

Was uns auch heute angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen noch bleibt, ist die quälende Frage: Heute − würden heute mehr Menschen aufbegehren und zu ihren eigenen ethischen Prinzipien stehen?"



Foto: Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus in der Kirschsteinanlage, v.l.: Petra Grumbach, OB Dr. Heike Kaster-Meurer, Schülerinnen und Lehrer der IGS und des LiHi.

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